An der Suchtfront
Feuchte Luft dringt langsam durch meine Jacke. Meine vor Kälte blau angelaufene Hand führt zitternd eine Zigarette an den Mund. Langsam sauge ich den warmen Rauch in meine Lungen.
Zusammen mit einem guten Dutzend anderer Ausgeschlossener dränge ich mich bei unwirtlichem Wetter um den geschütztesten Platz auf der Terrasse. Ausser einer gewissen Leidensfähigkeit verbindet uns nur eines: Rauchen.
Seit Beginn des Sommersemesters wird diese Lasterlust in den Universitätsgebäuden nirgends mehr geduldet: «uni rauchfrei» heisst das neue Motto. Um meine Gesundheit nachhaltig, aber mit Genuss zu schädigen, muss ich seitdem hinaus – an die frische Luft. Aber die will ich eigentlich nicht in meinen Lungen spüren. Ich brauche Teer und Nikotin!
Durch das verordnete Aussenrauchen fehlt mir auch meine Lieblingsposition zum Entspannen: In der Caféteria im Stuhl lümmelnd, eine Tasse Espresso auf dem Tisch, studiere ich den Warnhinweis auf der Zigarettenpackung. Dieser wird jedes Jahr grösser. Noch nicht so gross wie die «uni rauchfrei» Plakate, aber doch eindrücklich.
Alle Bedrohungsszenarien der modernen Gesellschaft werden aufgezählt. Um sämtliche sozialen und medizinischen Tabus zu brechen, brauche ich nur noch zu rauchen. Dafür musste ich ein anderes Laster beenden. Ich habe mein Auto verkauft. Das kann ich mir bei diesen Tabakpreisen nicht mehr leisten.
publiziert im Journal 5-05