Morgengarderobe

«Ich hab nichts zum Anziehen!» Eine klagende Stimme dringt an mein er wachendes Ohr. Ich bin zwar bereits aufgestanden und stehe im Badezimmer, aber meine Sinne sind erst am Aufstarten. «Nichts, gar nichts» tönt es weinerlich aus der Ferne.

Ich blicke, soweit es mir schon möglich ist, aus der Nasszelle in Richtung der Stimme. Hinter einem Berg Kleider erspähe ich einen Teil meiner Herzdame. Sie kniet zwischen aufgetürmten Hosen, Blusen und Röcken. «Ich brauche neue Kleider – dringend!» Die wöchentlich wiederkehrende Modeverzweiflung hat eingesetzt.

«Die dunkelblaue Hose steht dir doch gut», versuche ich lösungsorientiert zu reagieren. «Die macht breite Hüften», antwortet meine Herzdame, resolut jeden Widerspruch im Keime erstickend. «Und die schwarze mit den Längsstreifen?» «Die kann ich nicht schon wieder anziehen. Ich brauche neue Kleider!»

Ich gehe das Problem ganzheitlicher an: «In der lila Bluse siehst Du immer sehr gut aus.» – «Dazu passt aber keine Hose. Und schöne Schuhe habe ich übrigens auch keine mehr.» Meine Lösungsbeiträge sind gescheitert, Zeit für den taktischen Rückzug: «Ich mache das Frühstück bereit.»

Nachdem ich die Basis für einen guten Tagesbeginn auf dem Esstisch ausgelegt habe, mache ich mich ans Anziehen. Wenige Griffe reichen, um meine Garderobe zusammenzustellen. Normalerweise. Aber heute geht der Griff ins Leere.

«Liebling, hast Du mein weisses Hemd gesehen?» – «Das habe ich mir für heute ausgeliehen.»

publiziert im Journal 2-07