Musikgenuss

Endlich wieder Zeit, in Ruhe Musik zu hören! Entspannt lausche ich den faszinierenden Klängen eines noch unbekannten Meisterwerks der modernen Klassik.

Geteilter Genuss macht doppelte Freude. «Wie gefällt’s dir?», frage ich meine im Nebenzimmer lesende Herzdame. «Die ersten fünf Minuten fand ich sehr schön, aber seitdem wiederholt es sich nur noch» tönt es gelangweilt aus der Ferne. «Damit setzt der Komponist das sich ewig Wiederholende des Lebens wunderbar um», erläutere ich das offensichtliche Konzept des Werkes. Die Widerlegung meiner Deutung erfolgt sofort: «In meinem Leben passiert mehr als in diesem Stück. Und du hast dich grad gestern über die ständigen Neuerungen im Büro beklagt.»

Ich versenke mich wieder in der meditativen Musik. Nach einer Weile nähern sich die Schritte meiner Herzdame. «Wie lange dauert diese Lebensumsetzung noch? Wir wollten doch spazieren gehen. Der zwanghaften Zeit entrückt, antworte ich gelassen: «Ich möchte diesem Eindruck den Raum geben, den er sich nimmt». Und etwas pragmatischer: «Lange nicht mehr, es spielt schon eine Stunde».

«Warum hast du deine Augen zu?», fragt meine Herzdame und wendet sich für eine exaktere Zeitangabe der Musikanlage zu. «Mit geschlossenen Augen steigere ich meine aurale Empfindsamkeit. Damit blende ich ablenkende Reize aus – dich miteingeschlossen» versuche ich ein Kompliment.

«Dann öffne doch kurz deine visuellen Reizempfänger und blende die Repeat-Anzeige am CD-Spieler in dein Hirn ein. Du hörst seit einer Stunde das gleiche Stück.»

publiziert im Journal 3-08