Wandern

«Was für ein prächtiger Ausblick – diese Berge!» Meine Herzdame ist ganz hingerissen, ich erläutere die Aussicht: «Links ist der Oberalpstock, rechts die Mühlalp, aber in der Mitte fehlt die Martinsspitze!» Zur Klärung dieses Widerspruchs zwischen der Realität und meiner Wanderkarte fordere ich einen Planungshalt. «Wir sind doch erst losgegangen, jetzt laufen wir noch ein bisschen» setzt meine Herzdame die Prioritäten. «Geniess doch die Landschaft.»

Ein erneuter Blick in die Karte zeigt mir, dass ich um einige Kilometer verrutscht war. Zum Glück bemerkt meine Wanderpartnerin mein Kartenneufalten nicht. Ich versuche, die Navigationshoheit wiederzuerlangen: «Gleich kommen wir an eine Abzweigung. Da geht’s zu einem Gasthof.» «Wir haben doch Essen dabei. Und auf der Wiese zu sitzen ist viel schöner.» Meine Einwände bezüglich kratzender Grashalme und lästiger Ameisen werden mit einem «Stell’ dich nicht so an» diskussionslos abgetan.

Während des Picknicks vertiefe ich mich in das Studium der Karte. Mehrfach versucht meine Herzdame dies zu unterbrechen: «Schau, Murmeltiere!» oder «Ein Steinbock dort oben!» Doch ich lasse mich nicht ablenken.

Dank dieser sorgfältigen Routenplanung laufen wir nun auf direktem Weg zum Bahnhof. «In einer halben Stunde sind wir da» beruhige ich meine Herzdame. «Das sagst du schon seit zwei Stunden» erwidert sie gereizt – und macht mein ganzes Planungswerk zunichte: Sie fragt nach dem Weg. «Da hätten Sie vorher abbiegen müssen» erwidern uns entgegenkommende Wanderer. «In fünf Minuten wären Sie am Bahnhof gewesen. Dort unten sehen sie ihn doch.»

publiziert im Journal 4-08