Sind wir so alt?

Wir schlendern über den Flohmarkt, geniessen die entspannte Atmosphäre, das Durcheinander von Generationen und Geräuschen. Irgendwoher erreicht eine bekannte Melodie unsere Ohren, wir folgen ihr.

Dann stehen wir vor einem Karussell: Glückliche Kinder auf prächtigen Schimmeln, in bunten Automobilen und stolzen Flugzeugen. Und aus den Lautsprechern schreien die Rolling Stones wütend «I can't get no satisfaction».

«Das war doch einmal unser Lieblingslied», seufzt meine Herzdame. «Aber da fuhren wir schon Mofa», ergänze ich konsterniert.

Die Karussellmusik bleibt ihrem Stil treu und zelebriert Rockgeschichte. Sechsjährige wippen zu «Smoke on the water», Schnuller wackeln bei Jimi Hendrix' «Foxy Lady», Plüschbären werden zu «Whole lotta love» gekuschelt. Bei «Hells Bells» wenden wir uns ab – um Jahre gealtert.

«Wenigstens nicht ABBA», versucht mich meine Herzdame zu provozieren. Aber ich bin zu schwach, um meine Lieblingsband aus Teenagerzeiten zu verteidigen.

Abends gehen wir in eine «Ab 30»-Diskothek. «Dann fühlen wir uns wieder jung», hat mich meine Herzdame überzeugt.

Dort ertönt das gleiche seichte Gedudel, welches den ganzen Tag im Radio zu hören ist – nur viel lauter. Und schliesslich geschieht das Unvermeidliche, was uns schon vor einem Vierteljahrhundert aus allen Diskotheken vertrieben hatte: Die Village People grölen «YMCA» und das Publikum wirft im Ritual die Arme herum. Meine Herzdame blickt mich leidend an: «Gehen wir wieder zum Karussell.»

publiziert im Journal 4-09