Herbstdepression
«Lass dir Zeit, ich les’ noch den Artikel zu Ende.» Doch der Versuch, meine Sonntagmorgenlektüre zu verlängern, scheitert an der Entschlossenheit meiner Herzdame. «Ich bin schon lange bereit. Trenn’ dich von deiner Zeitung, wir machen jetzt unseren Antidepressions-Spaziergang.»
«Ich les’ noch schnell die Wetterprognose.» Unvorbereitet verlasse ich nicht das Haus. «Schau’ einfach aus dem Fenster: Das Helle ist die Sonne, das Blaue der Himmel – es ist schönstes Wetter», entgegnet meine Meteorologin.
Zweifelnd zeige ich ins Blaue: «Da hat’s Wolken.» «Das sind Flecken auf unserer Fensterscheibe. Die braucht eine Reinigung – und du bald eine Brille.»
Widerwillig raffe ich mich auf und schlüpfe aus dem Pyjama in Spaziergangskleidung – passend zur Jahreszeit in Herbstfarben. Meine Stilberaterin schätzt dies nur mässig: «Blau steht dir besser. Ausserdem solltest du deinen fortschreitenden Verfall nicht auch noch betonen.»
Entsetzt suche ich im Spiegel nach Altersindizien. «Das war nur ein Witz. Wenn du grade stehst, siehst du jung aus – für dein Alter», schmeichelt mir meine Depressionsbekämpferin – und motiviert mich zum Aufbruch: «Nimm’ doch deine Zeitung mit.»
Nach längerem Schreiten durch herbstliche Farben setzen wir uns auf eine Parkbank. Meine Herzdame geniesst die Aussicht, ich meine Lektüre.
«Da steht auch was über Herbstdepressionen», halte ich sie auf dem Laufenden. «Und was empfehlen sie dagegen?» fragt sie interessiert. «Spaziergänge.»
publiziert im Journal 6-09