Reden
«Und wie war dein Tag?» Ich versuche jeden Abend, meine Herzdame zum Schildern ihrer täglichen Erlebnisse zu bewegen. Aber auch heute gelingt es mir nicht. «Ich mag nicht. Du weisst doch, dass ich nicht so gern rede - im Gegensatz zu dir. Also erzähl’ du mir doch etwas Spannendes von deinem heutigen Tag.»
Bei uns ist das geschlechtertypische Kommunikationsverhalten halt etwas umgekehrt. Ich rede gern und sie hört gern zu. Nach diesem allabendlichen Vorspiel berichte ich dann von meinen Abenteuern des Alltags.
«Im Büro hab’ ich einen neuen Monitor für meinen Computer bekommen.» «Schon wieder?» «Hab’ ich dir davon schon erzählt?» «Ja, gestern.» «Und von meinem neuen Bürostuhl?» «Vorgestern. Hast du nichts Interessanteres zu erzählen?»
Meine Herzdame hört aufmerksam zu, hat ein besseres Kurzzeitgedächtnis als ich und ist an materiellen Dingen nicht so interessiert wie ich. Ich durchforste mein Gedächtnis nach persönlicheren Themen des heutigen Tages.
«Ah ja, mein Cousin hat mich noch angerufen.» Zum Glück ist mir das noch eingefallen. «Wir haben lange miteinander geredet.» «Wie geht’s ihm denn jetzt?» Meine Herzdame schaut plötzlich ganz besorgt. «Gut, glaub’ ich. Wieso fragst du?» Vorwurfsvoll erinnert sie mich: «Er hatte doch letzte Woche diese schwere Operation.»
«Stimmt, das hab’ ich ganz vergessen! Aber darüber haben wir gar nicht geredet» «Worüber denn?» «Über meinen neuen Monitor und den neuen Stuhl»
publiziert im Journal 3-10