Sozialfernsehen

«Bitte nicht die Familientherapie-Sendung!» Ich mache mein leidendes Gesicht. «Wozu willst du dir anschauen, wie man verhaltensgestörte Kinder gut erzieht?»

Der Kampf um die abendliche Fernsehhoheit ist eröffnet. «Es erleichtert mir den Umgang mit dir», grinst mich meine Herzdame an. Ich spiele den typischen Mann: «Heute ist das Champions-League-Endspiel. Das wird historisch, das muss ich sehen – Chips und Bier sind schon bereit!» Meine Herzdame schaut mir in die Augen und auf den Bauch. «Ein Einblick in zerrüttete Familien wäre gut für deine Sozialkompetenz – und weniger Bier gut für deine Figur.»

«Aber für Fussball brauchts auch Sozialkompetenz. Und Chips und Bier beim Fussballfernsehen sind ein schützenswertes Kulturgut.» Meine Herzdame beschreibt ihre Sicht dieser Sportart: «22 Millionäre mit schlechten Frisuren versuchen eineinhalb Stunden lang Tore zu schiessen, einer pfeift und hält bunte Karten in die Höhe – da brauchts eher Geduld als Sozialkompetenz.» «Geduld ist Sozialkompetenz!», triumphiere ich. Seufzend fügt sich meine Herzdame, und wir schauen gemeinsam Fussball.

Nach einer Viertelstunde wird das Spiel wegen Tumulten abgebrochen, der Schiedsrichter beruhigt tobende Trainer, heulende Fans trotten auf dem durch Feuerwerk vernebelten Spielfeld herum. Meiner Herzdame gefiels: «Es ging nicht lange, war abwechslungsreich, und du hast weder Bier noch Chips angerührt. Das können wir wieder mal schauen.»

publiziert im Journal 6-11